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Süddeutsche Bibliothek: Wolfgang Koeppen „Tauben im Gras“

„Verlorene Seelen“
Wie Tauben im Gras, heißt es in Wolfgang Koeppens Roman von 1951, betrachteten gewisse Zivilisationsgeister die Menschen, „indem sie sich bemühten, das Sinnlose und scheinbar Zufällige der menschlichen Existenz bloßzustellen, den Menschen frei von Gott zu schildern, um ihn dann frei im Nichts flattern zu lassen, sinnlos, wertlos, frei . . .”. Ein Zitat im Zitat: Gesprochen im Amerika-Haus in München vom englisch-amerikanischen Nobelpreisträger, dem Dichter Edwin, in dem sich T.S. Eliot, einer der großen Literaten der Nachkriegszeit, erkennen lässt. Edwin-Eliot zitiert die Amerikanerin Gertrude Stein, die, viel weniger fromm als Eliot, das Taubensymbol für die menschliche Seele und ihre Verlorenheit in einer entgötterten Welt bemüht.

„Verlorene Seelen”, so könnte man den Romantitel in weltanschaulichen Klartext übersetzen. Er rückt damit in die Nähe von Diagnosen von menschlicher „Unbehaustheit” oder vom „Verlust der Mitte”. Doch Koeppen ist nicht Kulturkritiker, sondern ein großer, sehr trauriger und sehr komischer Erzähler. Er versetzt das Taubenbild in eine konkrete Situation: Mr. Edwin spricht krächzend durch eine streikende Mikrofonanlage in einer amerikanischen Kultureinrichtung, die in der einstigen NSDAP-Zentrale Münchens eingerichtet ist; unter den Zuhörern des Vortrages – ein gesellschaftliches Ereignis in der ruinierten Stadt – sammeln sich die Gestrandeten und Überlebenden der deutschen Katastrophe: der Hauptdarsteller eines kitschigen Erzherzogfilms, eine Gesellschaftsdame, die ihr Geld mit Kuppelei verdient, ein gescheiterter Schriftsteller, Schwarzhändler, Besatzungsoffiziere, Zeitungsleute, eine so bunte wie fadenscheinige Gesellschaft. Das Wirtschaftswunder hat noch nicht begonnen, die Schlagzeilen sprechen von neuen Weltkrisen in Korea und Persien, der nächste Krieg scheint bevorzustehen.

Herr Edwin wird später auf der Suche nach Abenteuern von den Münchner Strichjungen Kare, Schorschi und Sepp zusammengeschlagen und beraubt – was der Leser eher beiläufig erfährt. Dreißig Personen und über hundert Episoden hat man in diesem gut 200 Seiten langen Buch gezählt, das seine Schicksale in einen atemlosen, parataktisch reihenden Stil einschmilzt, der nicht Handlungen, sondern ihre Bewusstseinsspiegelungen zeigt. In einem einzigen langen Satz hatte Koeppen seinen Roman, der den Verlauf eines einziges Tages im Februar 1951 schildert, unterbringen wollen, und was entstanden ist, zeigt immer noch Züge dieses formalen Ehrgeizes.

Trotzdem ist dieses kühnste aller München-Bücher nicht schwerblütig und angestrengt, sondern sarkastisch, unterhaltend im Geiste von Amerikanern wie Faulkner und Dos Passos. Es zeigt das moderne Deutschland, als es noch klein und dreckig wie ein ausgebufftes Ruinenkind war, in der Blüte eines muffigen Rassismus, der sich nun nicht mehr gegen Juden, sondern gegen „Besatzungsneger” richtet. Man wird sich vielleicht sehr gern an die anrührende Liebesgeschichte zwischen einem schwarzen Offizier und einer deutschen Frau erinnern, die ein Kind von ihm erwartet. Sie wollen aus München fort, um in Paris ein Lokal zu gründen, „in dem niemand unerwünscht ist”. Dieser Traum war zwischen Hofbräuhaus und Heiliggeistplatz damals nicht möglich.

GUSTAV SEIBT, Süddeutsche Zeitung, 28.06.2008