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Wir gratulieren Herta Müller zum Literaturnobelpreis!

Aus Anlaß der diesjährigen Vergabe des Literaturnobelpreises an die Schriftstellerin Herta Müller haben wir die Ausstellung zu den deutschsprachige Nobelpreisträgern, die wir derzeit in der Galerie unseres Hauses präsentieren, um eine kleine Informationsfahne über die Schriftstellerin Herta Müller ergänzt.

Herta Müller wurde am 17. August 1953 in Nitzydorf als Angehörige der deutschen Minderheit in Rumänien geboren. Ihr Vater war Soldat in der Waffen-SS und arbeitete nach dem Krieg als LKW-Fahrer. Ihre Mutter wurde zu jahrelanger Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert. Erst im Alter von 15 Jahren lernte Herta Müller Rumänisch, denn bislang sprach sie den banatschwäbischen Dialekt ihres Dorfes.

„Im Dialekt des banatschwäbischen Dorfes, in dem ich aufgewachsen bin, sagte man: Der Wind geht. Im Hochdeutschen, das man in der Schule sprach, sagte man: Der Wind weht. Und das klang für mich als Siebenjährige, als würde er sich wehtun. Und im Rumänischen, das ich damals in der Schule zu lernen begann, sagte man: Der Wind schlägt, ‚vintul bate’. Das klang damals, als würde er anderen wehtun.“

Herta Müller in der Festschrift „Murnau Manila Minsk. 50 Jahre Goethe-Institut“

In Temeswar studierte sie Germanistik und Romanistik und arbeitete später als Übersetzerin in einer Maschinenfabrik. 1979 verlor sie jedoch ihren Arbeitsplatz, da sie nicht mit dem rumänischen Geheimdienst Securitate zusammenarbeiten wollte. Danach verdiente sie als Deutschlehrerin und Kindergärtnerin ihren Lebensunterhalt.
Ihr erstes Buch mit dem Titel „Niederungen“ erschien 1982 in einer zensierten Fassung in Rumänien. Nachdem das Buch 1984 in Deutschland veröffentlicht worden war, erhielt Herta Müller Publikationsverbot und wurde wiederholt von der Securitate verfolgt und bedroht.
1987 reiste Herta Müller nach Deutschland aus. Sie lebt in Berlin.
Am 8. Oktober 2009 wurde bekanntgegeben, daß Herta Müller mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wird.

„Die Nobelpreis-Jury hat sich für eine europäische Autorin der Nachkriegsgeneration entschieden, deren Leben und Werk vom Zeitalter der Diktaturen geprägt und aus der Ära des Kalten Krieges herausgewachsen ist.“ Süddeutsche Zeitung, 9.10.2009

„Ich bin selber auch ganz überrascht. Ich dachte immer, auf der Liste ist man sein Leben lang. Dass ich den Preis bekomme, hielt ich für ausgeschlossen. Aber ich bin es ja gar nicht, es sind ja die Bücher.“ Süddeutsche Zeitung, 9.10.2009

„Es trifft zu, was der Dichter Mircea Dinescu über sie sagt: Sie sei eine „Aktivistin des Leidens“. Süddeutsche Zeitung, 9.10.2009

„So ist es eben dieser geschichtliche Raum der rumänischen Diktatur, der ihre Gegenwart definiert und der sie von der ‚hiesigen’ Literatur trennt. Sie habe keine Wahl, sagt sie: ‚Ich bin am Schreibtisch nicht im Schuhladen. Ich muss mich im Schreiben dort aufhalten, wo ich innerlich am meisten verletzt bin, sonst müsste ich doch gar nicht schreiben. {…} Wenn es bei Herta Müller eine Art Geborgenheit gibt, dann in der Sprache selbst.“ taz, 8.10.2009

„Oskar Pastior hätte es natürlich sehr gefreut, vielleicht sogar mehr als mich. Ohne ihn und seine detaillierten Erzählungen aus dem Lageralltag hätte ich das Buch auch gar nicht schreiben können. Er wollte aber, dass es das Buch gibt. Es war meine Trauerarbeit, darüber darf man eigentlich auch kein schlechtes Buch schreiben.“
Herta Müller über ihr Buch „Atemschaukel“, FAZ, 8.10.2009

Stimmen zu Herta Müllers Nominierung:

Marcel Reich-Ranicki: „Ich will nicht über die Herta Müller reden.“ Der Spiegel, 8.10.2009

Günter Grass: „Oh, das ist schön für Herta Müller.“ Damit begann der Nobelpreisträger des Jahres 1999. Das klang nicht übermäßig begeistert; das Ereignis war nicht etwa objektiv und an sich schön, sondern erst einmal nur für die Ausgezeichnete. Oder? Ein bisschen musste Grass nun doch nach kurzem Murmeln zugestehen: „Sie ist eine sehr gute Schriftstellerin.“ Er allerdings habe auf den Preis für Amos Oz gehofft, den „israelischen Schriftsteller“. Aber die Jury habe so entschieden. „Und die werden Gründe gehabt haben.“ Ende. FAZ, 9.10.2009

Gottfried Honnefelder, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels: „Es mag überraschend sein. Aber das geht vollkommen auf. Sie ist eine der größten Stimmen, die wir haben. Kräftig und fein. Wenn jetzt eine schreibende und noch recht junge Frau den Nobelpreis bekommt, dann hat das eine starke Aussagekraft.“ FAZ, 8.10.2009

Ilija Trojanow, Autor und Herausgeber: „Mit Herta Müller zeichnet die Schwedische Akademie in Stockholm eine Autorin aus, die sich gegen das Vergessen stemmt, gegen diesen Furor des Vertuschens und Verniedlichens, der im Osten Europas seit 1989 vorherrscht und eine der schlimmsten Epochen der Erniedrigung und Zerstörung des Menschen als regulative Normalität auszugeben sucht (eine Haltung, die inzwischen auch im „Westen” weithin anzutreffen ist). Herta Müller bewahrt sowohl von ihr selbst Erlebtes als auch ihr Anvertrautes in einem eigenwilligen Wortgedächtnis, sie verschafft den Verstummten neue Gehörschaft und ruft unsere Empathie für Vergangenes wach.
Der Nobelpreis an Herta Müller ist ein bedeutendes Signal, dass die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit existentiell wichtig und noch lange nicht abgeschlossen ist. Er ist Belohnung für eine unbeugsam-couragierte literarische Arbeit und Ermutigung für alle anderen, die einen ähnlichen Weg beschreiten.” FAZ, 8.10.2009

Stimmen aus Herta Müllers Werk

„Es gibt keine passenden Wörter fürs Hungerleiden. Ich muss dem Hunger heute noch zeigen, dass ich ihm entkommen bin. Ich esse buchstäblich das Leben selbst, seit ich nicht mehr hungern muss. Ich bin eingesperrt in den Geschmack des Essens, wenn ich esse. Ich esse seit meiner Heimkehr aus dem Lager, seit sechzig Jahren, gegen das Verhungern.“
Herta Müller: Atemschaukel, München: Hanser Verlag 2009, S. 25.

„Der Hunger ist ein Gegenstand.
Der Engel ist ins Hirn gestiegen.
Der Hungerengel denkt nicht. Er denkt richtig.
Er fehlt nie.
Er kennt meine Grenzen und weiß seine Richtung.
Er weiß meine Herkunft und kennt seine Wirkung.“
Herta Müller: Atemschaukel, München: Hanser Verlag 2009, S. 144.

„Man hat Läuse auf dem Kopf, in den Augenbrauen, im Nacken, in den Achseln, im Schamhaar. Man hat Wanzen im Bettgestell. Man hat Hunger. Man sagt aber nicht: Ich habe Läuse und Wanzen und Hunger. Man sagt: Ich habe Heimweh. Als ob man es bräuchte.“
Herta Müller: Atemschaukel, München: Hanser Verlag 2009, S. 232.

„Da wurde der Talhimmel ein großer blauer und die Weide ein großer grüner Dreck und ich ein kleiner Dreck dazwischen, der nicht zählte. Das Wort „einsam“ gibt es nicht im Dialekt, nur das Wort „allein“. Und dieses hieß „alleenig“, und das kling wie „wenig“ – und so war es auch.“
Herta Müller: Der König verneigt sich und tötet, München: Hanser Verlag 2003, S. 12.

„Es ist nicht wahr, daß es für alles Worte gibt. Auch daß man immer in Worten denkt, ist nicht wahr. Bis heute denke ich vieles nicht in Worten, habe keine gefunden, nicht im Dorfdeutschen, nicht im Stadtdeutschen, nicht im Rumänischen, nicht im Ost- oder Westdeutschen. Und in keinem Buch. Die inneren Bereiche decken sich nicht mit der Sprache, sie zerren einen dorthin, wo sich Wörter nicht aufhalten können.“
Herta Müller: Der König verneigt sich und tötet, München: Hanser Verlag 2003, S. 14.

„Das Kriterium der Qualität eines Textes ist für mich immer dieses eine gewesen: kommt es zum stumpfen Irrlauf im Kopf oder nicht. Jeder gute Satz mündet im Kopf dorthin, wo das, was er auslöst, anders mit sich spricht als in Worten. Und wenn ich sage, daß mich Bücher verändert haben, dann geschah es aus diesem Grund.“
Herta Müller: Der König verneigt sich und tötet, München: Hanser Verlag 2003, S. 20.

„Wenn am Leben nichts mehr stimmt, stürzen auch die Wörter ab. Denn alle Diktaturen, ob rechte oder linke, atheistische oder göttliche, nehmen die Sprache in ihren Dienst.“
Herta Müller: Der König verneigt sich und tötet, München: Hanser Verlag 2003, S. 31.

„Der Vernehmer fragte beim Verhör verächtlich: ‚Was glaubst du, wer du bist.’ Es war gar keine Frage, umso mehr nutzte ich die Gelegenheit zu antworten: ‚Ich bin ein Mensch wie Sie.’“
Herta Müller: Der König verneigt sich und tötet, München: Hanser Verlag 2003, S. 53.

„Ich wunderte mich, wie wenig ich an jeder Gegenwart das Gepäck erkannt habe, das sie mir, als sie vorbei war, mitgegeben hat für die Zukunft. Das Nachhinein schert sich nicht um die Trennung von Vergangenheit und Gegenwart.“
Herta Müller: Der König verneigt sich und tötet, München: Hanser Verlag 2003, S. 107.